November 2024
Story
Die Küstenlinie des Lago Maggiore, umsäumt von der unberührt dichten Natur Norditaliens, ist die Heimat vieler architektonischer Vorstöße in Richtung der blauen Tiefen; die jedoch an den Ufern des Lago abrupt innehalten. Manchmal still, an anderen Tagen schäumend, leiht die Oberfläche des Sees ihre wechselhafte Stimmung den Bauten, die sie umgeben. Doch vor allem ist sie eine weite Bühne für den uferlosen Himmel.
Dara Huangs sensibler architektonischer Eingriff, dessen Silhouette an eine Hand mit gespreizten Fingern erinnert, die sich zu Formen und Volumen erheben, bettet sich sacht in die Umgebung des Sees ein. Das Gebäude, eine organische Komposition aus weißem und lichtem Stein, Glas und Brise Soleil, ist ein Wechselspiel von Transparenz, Öffnen und Verbergen. Inspiriert vom dem, was dort war bevor der Bau sich umsichtig in die Vegetation, die die sanften Hänge des Seeufers umgibt, einfügte.
Wie ein Brückenkopf öffnet sich das Wohnzimmer der Villa zum Lago hin. Hier verweilt Dara Huang auf einem Sofa mit kunstvoll rauem Bezug, ein verspielter Verweis auf die natürlichen und witterungsgegerbten Materialien, die Huang im Haus arrangiert hat. Die einzigartige Aura des Ortes, der Blick, der ungehindert über die Wasseroberfläche streifen darf und die ungefilterte Stimmung der Natur, scheinen Huang für innehalten zu lassen – inmitten ihrer Myriaden unterschiedlicher Verpflichtungen. Sie hat ihren Erfolg früh angefacht. Mit Herzog und De Meuron wie auch Foster und Partner durchlief sie namhafte Architekturinstitutionen in denen sie aufblühte, inspiriert durch Anspruch und Vielfalt der zu bewältigenden Projekte. Ihre eigene Firma gründete Sie im Alter von dreißig und steht seitdem nicht mehr still, oszilliert zwischen ihren Projekten, Partnern, Klienten und frischen Bauplätzen.
«Ich mochte Geometrie, aber ich liebte Kunst! Da harmonierte das konstruktiv-ästhetische Wesen von Architektur perfekt mit meinen Leidenschaften.»
Trotz aller professioneller Gewöhnungseffekte entzieht sich Huang allzu beständiger Routinen. So kehrt sie auch gerne nach Abschluss zu ihren Projekten zurück, um deren Reifung vom reinen Konstrukt zu einem lebendigen Bauwerk zu begleiten. Umsichtig erhält sie sich ihre Neugierde und beobachtet die Evolution, die ihre Entwürfe an der Seite ihrer Bewohner durchlaufen. Sie entdeckt Details, die neue Funktionsweisen erlangen und sich den Leben anpassen, die um sie herum gelebt werden und eigene Geschichten zu erzählen beginnen. Um Menschen jene Bühne bieten zu können, mithilfe derer sie ihre Erzählungen fortgestalten, fordert Huang den Raum stets aufs Neue heraus. Meint dieser Umgang mit Raum lediglich die wiederholte Orchestrierung bestimmter Bereiche, das tägliche Lenken unserer Wege, das Erledigen bestimmter Dinge auf bestimmte Art und Weise?
Für Huang ist Architektur viel Mehr ein Medium der Balance. Die eigentliche Freiheit findet sie in den unangetasteten Potentialen negativer Räume, jener Räume, die zwischen den konventionellen Bereichen entstehen. Hier kann sich Neues entwickeln, man etabliert eigene Wege, findet eigene Verwendungen und macht unvorhersehbare Erfahrungen. Die Balance zwischen bestimmten Arealen und jenen mit freiem Interpretations- und Aneignungspotenzial, ist in die Projekte Huangs eingeschrieben.
«Meine Entwürfe sind der Beginn von Geschichten, die andere fortschreiben. Und egal wer kommt – es entfalten sich immer einzigartige Erzählungen.»
Räumlichen Situationen einen Rahmen zu verleihen, Blicke, Bewegungen und Schritte zu lenken. Das, was schon immer da war, jedoch unbeobachtet blieb, herauszuarbeiten, zieht sich einem roten Faden gleich durch ihre Projekte. Doch dem voran steht das immer Finden eines schlüssigen Konzepts, einer Vision, die jedes Projekt trägt und zusammenhält. Huang ringt Räumen Raum nicht um seiner selbst willen ab. Orte mit einer authentischen, lebendigen Aura auszustatten, ist für sie von entscheidender Bedeutung. So muss jeder Ort sein individuelles Charisma besitzen, eines, dessen Leitmotiv sich Huang von den einzigartigen Kontexten ableitet, in denen ihre Skizzen, Grundrisse und Materialkollagen Wirklichkeit werden.
Sie beginnt mit einer lockeren Kollektion unvollkommener Elemente – Lichtmustern, Windbewegungen, die Umgebungstopologie, die Wünsche, Bedürfnisse und Ambitionen der Bewohner – die sie in ihren Ansatz einschließt. Ihr Pinselstrich entfaltet sich nicht nur sichtbar und tastbar, es erzeugt Stimmungen und Emotionen. Hierfür lockt sie mit ihren offenen, lichten Konzepten natürlichen Umgebungsfacetten ins Innere ihrer Entwürfe; ein subtiler Kunstgriff, um eine feine Verbindung mit den materiellen und immateriellen Nuancen der Natur herzustellen. Von Anfang an führen ihre Entwürfe die Gegensätzlichkeit des Naturschönen mit dem konstruierten artifiziellen Charakter architektonischer Ensembles zusammen. Dies können uralte Wälder oder ausgedehnte Ebenen sein, die auf das zyklische Wechselspiel künstlichen und natürlichen Lichts oder unermüdliche urbane Kreisläufe treffen.
«Sind alle Arbeiten abgeschlossen und die Räume füllen sich nach und nach mit Leben, mit Menschen, Musik, Hunden und Kindern, beginnen meine Visionen, die aus Ziegeln und Mörtel entstanden sind, zum Leben zu erwachen.»
Obwohl sich hinter dem charismatischen Architekturbegriff komplexe Prozesse immer ausgefeilterer Art verbergen, sind Huangs Mittel der Wahl, um sich auch den anspruchsvollen Herausforderungen zu stellen, nach wie vor Stift und Papier. In schlichten, präzisen Linien verdeutlicht sie ihre Perspektiven, Ansätze und erschließt den räumlichen Charakter. Ihre musikalische Bildung hilft ihr, ihre Gedanken verständlich zu machen, in Form und auf Papier zu bringen, erinnert sich Huang. Noten lesen zu lernen und Musik zu machen hat ihr räumliches Vorstellungsvermögen so subtil wie nachhaltig geprägt. Denkt sie im Musikalischen, bewegt sie sich in abstrakten Räumen. Sobald Sie aber spielt, räsoniert ihr Spiel mit dem Raum und interagiert unmittelbar mit ihren materialisierten Vorstellungen und übersetzt den in Linien verfassten Codes der Noten in etwas hör- und fühlbar Schlüssiges.
Diese Parallele zwischen den Disziplinen, die Dualität von abstrakten und sinnlichen Merkmalen macht Musik und Architektur für Huang zu Geschwistern. Auch ihre Architektur besteht aus einer Sprache der Linien, aus deren Kompositionen sie Räume und Sinn schafft. Gepaart mit den richtigen Werkzeugen und Instrumenten entfalten sich Stücke und materialisieren sich Gedanken. Doch gute Architektur entsteht nicht einfach so. Gute Architektur strebt bewusst nach Verbindungen, gestaltet Brücken, um als Medium im ursprünglichen Sinn zu fungieren: Als Element in der Mitte.
«Bevor ich las, hatte ich immer einen Buntstift in der Hand, egal wo ich saß oder wohin wir fuhren. Irgendwie hat sich das zu meiner Entwurfssprache und in meine Gebäude verwandelt – und in meine Karriere!»
Zeitgemäße Architektur muss das Bindeglied zwischen Menschen und ihren Lebenswirklichkeiten sein, ist Huang überzeugt. Architektur muss Antworten auf die sich aneinanderreihenden Katastrophen geben, muss unsere Erwiderung auf Vorhersehbares und Unvorhersehbares sein. Huangs Perspektive hat sich verschoben und liegt heute auf der immensen sozialen Verantwortung ihrer Disziplin. Architektur muss eine Brücke zu sauberem Wasser, ein Weg zu sauberer Luft sein und den Weg zu einem geschützten Lebensraum ebnen und den Menschen ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit schenken. Im Idealfall erkennen sie, dass diese Architektur, ihre verwendeten Stoffe und Formen das Ergebnis gegenseitiger Achtsamkeit sind. So beantwortet Huang die implizite Frage nach dem für sie wichtigsten Wert der Architektur mit „Vertrauen“. Um effektives Vertrauen in Räume und Gebäude zu stiften behält sie sich eine gewisse Konsequenz im Umgang mit Materialien vor.
Um ehrliche Räume zu schaffen, lehnt Huang künstliche Überzeichnungen ab, Beschichtungen und Applikationen, die den Materialcharakter negieren, verzichtet auf ornamentale Staffagen, die die Eigentlichkeit von Orten übertünchen würden. Denn die Beziehungen, die zwischen Menschen und authentischen Orten entstehen, erfüllt diese mit Stolz und motiviert sie die Orte und Räume auszufüllen und zu erhalten. Mit diesem Kalkül gestaltet Dara Huang Orte mit dynamischer Bedeutung und verleiht ihrer Architektur eine Lebendigkeit, die ihre materielle Dimension transzendieren. Ohne Empathie würde Architektur lediglich Materie ohne Bedeutung anhäufen, wie so viele Disziplinen neben ihr.
Huangs Architektur kreist um die Potentiale, die neue Sichtweisen bergen und Beziehung von Menschen zu Räumen hinterfragt und neue Perspektiven für ein besseres zeitgemäßes Leben eröffnet. Doch um dies zu verwirklichen, muss die vom Kompartiment her gedachte Architektur revisioniert werden, in der Menschen bisher verwahrt wurden. Das ist keine neue Vision. Vielmehr eine, die die Disziplin seit mehr als einhundert Jahren begleitet – jedoch keine geeignete Alternative etablieren konnte. Huang selbst scheiterte oft genug an der Realisierung ihrer Visionen durch die Beschränkungen von Materialien und Zulieferern. Um so größer war die Befriedigung als sie während ihrer Baseler Jahre im Büro von Herzog und De Meuron ein neues Instrument entdeckte. Huang entsinnt sich noch genau der euphorisierenden Begeisterung bei ihrer ersten Begegnung mit Sky-Frame Fabrikaten. Eine glückliche Fügung, die in ihrem Werk noch immer nachklingt. Ihre unablässigen Versuche und Entwürfe zu Gunsten immer filigranerer, leichterer Designs profitieren noch immer von den Sky-Frames und deren Innovationen im Bereich nahtloser Fenstersysteme.
Die ästhetischen und praktischen Komposita schweizerischer Machart tragen Huangs Visionen nach wie vor, mit denen sie Fassaden anhebt, durchlässige Wände schafft und Schlichtheit kultiviert. Mit Sky-Frame gelingt ihr die Verflechtung von Natur und den gebauten Raum auf neue Art und Weise, löst kontinuierlich verstellte Räume auf und schöpft neue Freiräume. Und die Zurückhaltung, mit welcher sich die Schweizer Fenster in die Bausubstanz einfügen, bestärkt die minimalistische Tendenz Huangs raffinierter Designs und bilden nahezu unsichtbare Rahmen für neue Erzählungen. Mit ihrer nächsten Geschichte zieht Huang einen Rahmen für die unbeugsamste Eigenschaft von Architektur auf: Nachhaltigkeit.
Abseits jedweden simplistischen Botanik-Enthusiasmus, versteht Huang Nachhaltigkeit als Erinnerung, als kommunikatives Potential. Huang schaut auf das, was bleibt, wenn wir die Bühne verlassen und sie zukünftigen Generationen überlassen, die durch ihre Gebäude streifen, ihre Entwürfe bewohnen und in ihnen leben. Damit dieses Vermögen ihren gebauten Visionen eingeschrieben bleibt, verliert sie die Effektkaskaden, die ihre Arbeiten auslösen können, nie aus den Augen: Wie wird sie Ökosysteme, gesellschaftliche Zusammensetzungen und die Lebenswirklichkeit kommender Generationen beeinflussen? Architektur versteht Huang als Medium, als Prisma, das technische kulturelle und individuelle Verflechtungen aufbricht. Elemente, die sie stets aufs Neue rearrangiert und ausbalanciert. Nachhaltige Architektur ist für Dara Huang Kommunikation, die niemals endet.
«Ich bin überzeugt, dass Nähe zur Natur, zum Wasser und zum Himmel das Leben verlängert. Das zu ermöglichen – jemandes Leben zu verlängern – ist ein unbeschreibliches Geschenk.»
Dara Huang ist die Gründerin von Design Haus Liberty (DH Liberty) – einem internationalen Büro für Architektur, Innenraumgestaltung und Design, das 2013 in London eröffnet wurde und Zweigstellen in London und Hongkong unterhält.
Sie hat einen Master in Architektur von der Universität Harvard und begann ihre Karriere bei Herzog & de Meuron in Basel und Foster + Partners in London.
Obwohl das Unternehmen erst seit kurzer Zeit besteht, hat Dara bereits zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen erhalten, darunter Property Weeks 40 under 40, BBC Chinas 100 Women, Prestige Hong Kongs 40 under 40 und drei Anerkennungen bei RIBA-Wettbewerben. Sie sitzt im Vorstand von Prop Tech und ist Mitglied des Milken Institute und des Red Club x Cartier. Zudem hat sie im Londoner Somerset House sowie auf der Architekturbiennale in Venedig ausgestellt. DH Liberty strebt danach, durch die Schaffung von Mehrwert die Markttrends im Bereich Design anzuführen. Das Unternehmen erweitert die Möglichkeiten für Architekten, durch die bebaute Umwelt Geschichten zu erzählen.
Es zählt Firmen aus dem Luxusbereich wie The Four Seasons, LVMH, Cartier und Starwood Capital zu seinen Kunden. Ausserdem ist Dara Mitbegründerin einer Plattform für erschwinglichen städtischen Wohnraum: Vivahouse ist ein nachhaltiges, vorgefertigtes System, das Asset-Light-Strategien einbezieht und das Wohnen in eine Dienstleistung verwandelt. Darüber hinaus möchte sie mit ihrer ersten Möbel- und Produktlinie, die 2022 auf den Markt kommen soll, das Design demokratisieren.
Dara ist die Tochter eines aus Taiwan in die Vereinigten Staaten emigrierten NASA-Wissenschaftlers. Sie wuchs in einem multikulturellen Umfeld auf und hat viele Länder der Welt bereist. Ihr Interesse für zeitgenössische Kunst und die Natur hat viele ihrer Entwürfe angeregt.
Film: Luzian Schlatter | Text: Lennart Franz