Dezember 2024
Story
Krisen sind immer auch Chancen. Eine Chance der aktuellen Situation liegt wohl darin, sich daran zu erinnern, was wirklich wichtig ist. «My Point of View» zeigt in dieser Ausgabe die Perspektive des kanadischen Architekten Brian MacKay-Lyons: Er ist überzeugt, dass die Gemeinschaft genauso wichtig ist wie die Privatsphäre. Tief verwurzelt in seiner lokalen Gemeinschaft macht er Architektur von Welt und arbeitet dabei in einmaliger Weise mit Kultur und Natur.
«Nova Scotia» – Neuschottland, eine Halbinsel ganz im Osten Kanadas, verkörpert genau das, was wir uns unter atlantischer Landschaft und Kultur vorstellen: Grüne, hügelig zerklüftete Landschaften, Kliffe an der Küste zur atlantischen See und Menschen, die stark mit der Natur verbunden sind. Zu ihnen gehört Brian MacKay-Lyons. Als Vertreter der so genannt vernikulären Architektur nutzt er lokale Materialien und Bau-Traditionen. Seine Projekte zeigen die Wichtigkeit des Kontextes, betonen die Landschaft und verbinden traditionelle mit modernen Konstruktionstechniken.
Das Aufwachsen und Leben in Arcadia, einer kleinen Gemeinschaft in Neuschottland, hat den 65-Jährigen tief beeinflusst. Als wir online mit ihm sprechen, sitzt Brian MacKay-Lyons in einem seiner Gebäude der Familien-Farm in Upper Kingsburg. Sein Blick schweift über den Atlantik, er sieht Bau-Arbeiter, die auf der Farm ihrer Arbeit nachgehen und das Kajak, mit welchem er gemeinsam mit seiner Frau oft raus auf die See fährt.
«Ein Tag ist gut, wenn ich rausgehe, die Arbeiter frage, wie es ihnen geht und wenn ich ihnen abends dann vielleicht ein kleines Essen vorbeibringe.»
MacKay-Lyons Sweetapple: Progressiv aber respektvoll
Von seiner Farm aus arbeitet Brian aktuell virtuell mit seinem Team von «MacKay-Lyons Sweetapple Architects» im anderthalb Stunden entfernten Halifax zusammen. Gegründet hat er das vielfach preisgekrönte Architektur-Büro 1985, 2005 stiess sein Partner Talbot Sweetapple hinzu. Wie Brian als Architekt selbst, steht das gemeinsame Büro für moderne, progressive Designs, welche aber in einmaliger Weise den jeweils lokalen Kontext respektieren: Landschaft, Kultur, Klima und Material der Umgebung finden sich in ihren Werken wieder. Gemeinsam pflegen sie eine Philosophie, die der Krise standhält und sich in Zukunft wohl noch stärker bewährt: «In Bezug auf die Architektur hat die aktuelle Situation unsere Sichtweise nicht wirklich verändert. Wir waren schon immer an der Verbindung von Gemeinschaft und Privatsphäre interessiert. Uns interessiert beides. Wir folgen der Idee, dass wir als Menschen sowohl Teil einer Gemeinschaft und nicht isoliert sein wollen und dennoch unsere Privatsphäre schätzen.»
Die Verbindung von «Ich» und «Wir»
Brian MacKay spricht damit einen Aspekt an, der uns gerade zu dieser Zeit sehr wichtig ist: Wir suchen Schutz und doch Verbindung. «Das ist Sache der Kultur: Nebst dem ‹Ich› ist das ‹Wir› genauso wichtig. Wir wollen im Design unserer Projekte zwei Hüte tragen: Wir wollen einerseits auf die Welt und die Zukunft blicken, andererseits aber genauso auf die Tür des Nachbarn.»
«Wir haben heute vergessen, wie man gute Städte und Dörfer baut. Privatsphäre und Gemeinschaft sind gleichermassen wichtig.»
Mit der lokalen Kultur und den Gegebenheiten zu arbeiten, bedingt auch den achtsamen Umgang mit Ressourcen und Kostenbewusstsein. «Wirtschaftlichkeit meint Nachhaltigkeit einerseits, andererseits aber auch Demokratie – Zugänglichkeit. Es kommt eine ganze Generation, die nicht den Glauben hat, dass sie sich jemals ein Haus leisten kann. Und wir waren wir schon immer eher am Volkswagen als am Porsche interessiert. Und schliesslich meint Wirtschaftlichkeit auch Ästhetik. Der wirtschaftliche Umgang mit Ressourcen führt in jeder menschlichen Tätigkeit zu Eleganz – ganz egal ob man Wissenschaftler, Geschäftsmann, Maler oder Dichter ist.»
Die Gemeinschaft im Mittelpunkt
Diese Haltung gründet tief im Ursprung Brian MacKay-Lyons: Der Kultur Nord-Amerikas, Kanadas im Besonderen: «Dieses Land wurde von Bauern besiedelt, die auf der Suche nach einer Gelegenheit waren. Wir haben eine grosse indigene Gemeinschaft, mit der wir uns stark durchmischt haben. So entstand eine Kultur des Teilens und Schenkens.» Eine tief humanistische Haltung mit dem Menschen und der Gemeinschaft im Mittelpunkt – ein Aspekt, der sich durch die ganze Arbeit von Brian MacKay-Lyons zieht.
«Wir haben eine Farm hier. Und ich bin Bauer, aber gewiss doch. Die Farm ist das Zuhause unserer Familie. Sie ist aber auch ein Treffpunkt für eine globale Gemeinschaft von Architekten, Musikern und Künstlern.»
Wie wichtig Brian MacKay-Lyons die Gemeinschaft – gerade jene mit der Familie – ist, zeigt sich auch daran, dass er heute mit seinen Kindern zusammenarbeitet: Seine älteste Tochter ist Statikerin, die jüngere Tierärztin und sein Sohn Architektur-Praktikant.
Passion in Rom gefunden
Und doch: Neben dem Lokalen ist da auch das Globale – andere Kulturen, die Brian MacKay-Lyons ebenso kennt. Er hatte das Glück, sowohl das einfache Leben seiner Herkunft zu kennen, als auch den Kontrast dazu zu erleben. «Wir sind alle Kinder des Zeitgeistes. Meine Eltern waren zusammen im zweiten Weltkrieg – sie reisten deshalb gemeinsam. Sie waren die erste Generation der reisenden Mittelklasse. Ich hatte das Geschenk, einerseits in einem kleinen Dorf mit 40 Menschen am Ende der Welt zu leben und im Wald zu spielen und andererseits am nächsten Tag in Rom zu sein.»
«Ich erinnere mich genau an den Tag, als wir in Rom im Forum waren. Mein Bruder und ich versuchten mit unseren Armen um eine grosse römische Säule zu greifen – so wie es Kinder eben tun. In diesem Moment realisierte ich, dass ich Architekt sein werde.»
Architektur mit «Soul»
Das Reisen ist eine der grossen Inspirationsquellen für Brian MacKay-Lyons. Obwohl er mit vier Jahren um seine Bestimmung wusste, war da noch eine andere Leidenschaft als die Architektur: Die Musik. Sehr talentiert, war Brian vor seiner Karriere in der Architektur als Schlagzeuger auf dem Weg zum Studio-Musiker.
«Musik ist noch immer sehr wichtig für mich. Ich spiele nicht mehr so oft. Aber Musik gibt mir einen bestimmten Blick auf Ästhetik: Viele gute Architekten sind Musiker. Dies ist wohl nicht erstaunlich, weil Architektur und Musik sich im selben Teil des Gehirns abspielen.» Zum Gehirn hinzu kommt bei Brian MacKay-Lyons aber auch die grosse Portion Seele: «Kürzlich erhielt ein Bekannter den Ehrendoktor einer Universität. In seiner Rede sprach er von mir – ich weiss nicht wieso – und er sagte: ‹Brian MacKay-Lyons hat Soul›. Und Soul ist selten. Muddy Waters und Aretha Franklin hatten Soul.»
«Ich würde gerne Architektur machen, wie Muddy Waters den Blues spielte.»
Die Beziehung zum Kunden als Erfolgsrezept
Diese Seele, die Liebe für die Menschen, zeigt sich ganz besonders auch in der Gestaltung der Beziehung zu seinen Kundinnen und Kunden: «Wir nehmen unsere Kundinnen und Kunden immer mit auf eine intellektuelle Reise. Es gibt da diese Vorstellung unter uns Architekten, dass ein Kunde nur Renderings und keine Konzepte versteht. Ich glaube das ist beleidigend. Menschen sind sehr gut in Abstraktion. Wir sprechen auf Augenhöhe zum Beispiel über Dagewesenes in der Architektur. Die Kunden teilen mit mir ihre Ansichten auf die Welt. Über diesen Austausch entsteht Beziehung. Und das ist es, was Architektur für mich ausmacht.»
«Ich werde oft gefragt, wie es mir gelingt, dass Kunden sich auf diese intellektuelle Reise mit mir einlassen. Ich kann nur sagen: Wir machen unser Geschäft nicht auf dem Rücken von bankrotten Dienstleistern und verführen unsere Kunden nicht.»
Architektur als soziale Kunst
Die Rolle des Architekten sieht Brian MacKay-Lyons denn auch als problematisch, da die Verführung immer nahe liegt: «Architekten sind Optimisten von Beruf. Es gibt keinen Platz für Dystopie in der Architektur. Sie ist eine soziale Kunst und wir haben die Verpflichtung, optimistisch zu sein. Das ist gerade wichtig, wenn es in der Welt nicht so rund läuft. Das Problematische besteht darin, dass wir einerseits Architektur als soziale Kunst sehen, andererseits aber auch Geld verdienen müssen, um unsere Rechnungen zu zahlen. Und es sind die Reichen, die zahlen. Das verkompliziert unsere Beziehung zur Gesellschaft.»
Durch seine Herkunft, die Verwurzelung in seiner Gemeinschaft und das Reisen ist Brian MacKay-Lyons überzeugt: «Ich glaube die Kultur entsteht bei den Armen. Das darf man aber nicht anti-intellektuell verstehen. Ich glaube einfach es braucht beides: Wenn ich reise, sehe ich mir die Sehenswürdigkeiten an, aber ich gehe auch durch die Hintergassen.»
Das «Quebec Pool House»: Der Porsche unter den Volkswagen
Er bleibt dieser Haltung treu – auch wenn es um die Realisation von High-End Projekten wie dem Quebec Pool House geht. Brian MacKay-Lyons macht Paradoxien möglich.
«Ferdinand Porsche designte den Volkswagen und eben auch den Porsche. Das Pool House in Quebec, in welchem wir Sky-Frame Produkte verwendet haben, ist so ein Porsche.»
Das Haus ist in die Flanke eines Berges konstruiert und liegt westlich von Montreal. Inspiriert von Mies van der Rohes «Barcelona Pavillon» von 1929, ist das Quebec Pool House ein minimalistisches Projekt – eine vermeintliche einfache Struktur, doch höchst aufwendig gefertigt. Das Haus integriert sich nahtlos in die Landschaft und lädt diese in den Innenraum ein.
Fliessender Übergang von aussen nach innen
«Das schwierigste in der Architektur ist das Design der Fassaden. Es braucht ein ganzes Leben um zu lernen, wie man wirklich gute Fassaden macht. Zentral ist der Umgang mit Fenster- und Nicht-Fenster-Flächen. In Bezug auf Fenster-Flächen ist Sky-Frame das Beste.» Im Quebec Pool House schuf Brian MacKay-Lyons einen fliessenden Übergang vom Aussen- in den Innenbereich. Der gebotene Raum kann komplett zum Aussenbereich werden und man weiss nicht mehr, ob man sich nun innen oder aussen befindet. Es gibt einen Verlauf von Aussenbereich im Pool zum Aussenbereich unter Dach hin zum Aussenbereich am Kamin und schliesslich zu dem, was nur Sekunden bevor man die Fenster öffnete, Innenbereich war.
Trotz der aufwendigen Fertigung zeigt sich auch am Quebec Pool House der zentrale Aspekt, der die Arbeit von Brian MacKay-Lyons immer auszeichnet: «Es gibt viele teure, von Architekten designte Häuser die nicht wirklich spannend sind, weil sie nicht auch den Aspekt der Würde eines einfachen Bauers haben. Die wahren Meister eines Fachs kennen den einfachen Alltag.»
Der Kanadier Brian MacKay-Lyons (1954) ist als Architekt am bekanntesten für seine Häuser an der Küste von Neuschottland. Für seine Projekte verwendet er lokale Materialien und Konstruktionstechniken. Er ist Gründungspartner von MacKay-Lyons Sweetapple Architects in Halifax und Professor an der Dalhousie University School of Architecture, ebenfalls in Halifax. Er studierte Architektur an der Technical University of Nova Scotia und erhielt seinen Master in Architektur und Urban Design an der University of California in Los Angeles. Er studierte und arbeitete auch in China, Japan und Italien.
1983 kehrte Brian MacKay-Lyons nach seinen Auslandaufenthalten nach Kanada zurück und gründete 1985 sein eigenes Architektur-Büro. 2005 stiess sein Geschäftspartner Talbot Sweetapple hinzu und «MacKay-Lyons Sweetapple Architects Ltd.» wurde gegründet. Zu ihren vielen Auszeichnungen gehören die Gold-Medaille des «Royal Architectural Institute of Canada» 2015, zwei Ehren-Auszeichnungen des «American Institute of Architects», acht Auszeichnungen der «Canadian Architect Awards» und viele mehr.
Interview & Text: Shift to Clarity