Dezember 2024
Story
«Architektur kommentiert nicht nur. Sie veranlasst dich nicht nur, über die Realität nachzudenken. Sie erschafft Realität.»
Bjarke Ingels ist einer der gefragtesten Architekten unserer Zeit. Wir treffen den Dänischen Shooting Star in Kopenhagen. Ein Gespräch über seine Sicht der Dinge, das Schaffen von Realität, grossen Mut und die Quelle seiner Pragmatik.
Man muss sich daran gewöhnen, an dieses Schaukeln. Wir sitzen mit Bjarke Ingels auf seinem Hausboot, das mitten im Kopenhagener Hafen vor Anker liegt. Und wir blicken aufs Meer. Wir hören Bjarke fasziniert zu, wie er voller Energie, ohne Rast und Pause euphorisch vornüber gebeugt von seinen Projekten erzählt. Das schwere Schaukeln der alten 450 Tonnen Autofähre, welche Bjarke zum Zuhause seiner Familie umgebaut hat, trägt zur Empfindung bei: Es ist ungeheuerlich, was dieser Mann mit seinen 45 Jahren erreicht hat.
Mit seiner «BIG», der Bjarke Ingels Group, ist er einer der gefragtesten Architekten der Zeit. Er und seine Mitarbeitenden stemmen alleine 2019 gut 13 Projekte. Darunter Mega-Projekte wie «Copenhill», so der Name der absolut emissionsfreien Abfall-zu-Energie Kraftwerkanlage. Eine enorm innovative Lösung, die weltweit Pioniercharakter hat – wahrgewordene Utopie. Und das ist es, was Bjarke Ingels auszeichnet: Er ist ein pragmatischer Utop.
Utopie und Pragmatismus kombiniert
«Utopie ist das Konzept einer Welt, die so perfekt ist, dass sie nirgendwo existieren könnte. Pragmatismus achtet die Gegebenheiten der Realität und fragt nach dem Umgang damit. Wenn man diese zwei Dinge kombiniert, klingt das wie ein Widerspruch. Aber die Kombination erinnert uns bei jedem Projekt daran, dass wir diesen einen Ausschnitt der Welt so gestalten können, wie unsere ideale Welt. So wird aus Fiktion ein Fakt.»
Fakt ist auch, dass wir zum Gespräch im Loft-artigen Wohnraum seiner «Hausfähre» sitzen und durch eine enorme Fensterfläche Blick über den ganzen Kopenhagener Hafen haben. Das Kraftwerk, Copenhill, auf der einen Seite, der Palast der Königin auf der anderen. «Es wäre unmöglich, sowas in der historischen Stadt zu finden. Dank der Fähre sind wir mitten drin und haben doch Offenheit in alle Richtungen.» Per Zufall über die alte Fähre gestolpert, hat er damit einen Traum pragmatisch realisiert.
«Nur du und deine Aussicht»
Bjarke Ingels, wie die meisten Skandinavischen Architekten, liebt die Arbeit mit Aussichten und Tageslicht – gerade hier auf dem Wasser: «Wir sehen im Osten die Sonne aufgehen und im Westen untergehen. Das ist die eine Achse. Im Obergeschoss ist eine kleine Wohnung für meine Frau und mich – mit massiven Aussichten nach Süden und Norden – die zweite Achse.» Die Direktheit dieser atemberaubenden Erfahrung wird durch die auf dem Hausboot verbaute Sky-Frame Lösung möglich. «In einer idealen Welt möchte ein Architekt so wenig wie möglich zwischen Innen und Aussen. Man möchte also das klarste, performanteste Glas mit möglichst geringem Eisenanteil für Null Kolorierung. Und man möchte so wenig Struktur, sprich Rahmen, wie möglich. Hier auf der Fähre sind die Fenster so transparent, dass es den Anschein macht man könnte hindurchfliegen.»
Rahmenloses Denken
Es mag sein, dass Bjarke Inspiration in dieser Aussicht findet. Doch erklärt das noch nicht, wie er es schafft für seine Projekte alle denkbaren Perspektiven miteinzubeziehen. Sein Denken und Handeln scheinen grenzenlos. Jedes seiner Projekte bezieht die umgebenden Systeme vollständig mit ein: «Das hilft uns zwar nicht, den Kopf frei zu kriegen. Aber wir verbinden uns damit mit den grossen Herausforderungen. Das Heraus-Zoomen – in der Psychologie und Soziologie spricht man von Reframing – lässt uns auf den grösseren Rahmen blicken. So wollen wir nicht nur das eine Gebäude verstehen, sondern die Nachbarschaft und das Ökosystem, von dem es ein Teil ist.»
«Wir beginnen nicht mit der Antwort, sondern mit den grossen Fragen.»
Womit uns auch klar wird: Bjarke Ingels hat enormen Mut: «Wir haben nicht einfach keine Grenzen. Wir fragen die grossen Fragen und tragen die Konsequenzen.»
Innovation weitergedacht
Das soeben eröffnete Abfall-zu-Energie Kraftwerk mitten auf der Industrie-Insel im Kopenhagener Hafen ist bester Beweis dafür, dass Bjarke Ingels Antworten auf die gestellten Fragen findet: Es ist nicht einfach ein Kraftwerk, sondern das sauberste seiner Art. Aus dem Kamin kommen keine Schadstoffe. 99.9 Prozent der im Prozess entstehenden Partikel werden gefiltert oder gereinigt. «Wir haben damit die Chance, der Welt zu zeigen, dass saubere Technologie nicht nur besser für die Umwelt, sondern auch für die Bürgerinnen und Bürger einer Stadt ist.» Und das meint Bjarke im wahrsten Sinne des Wortes. Das Kraftwerk macht Spass. Auf dessen Dach kann man Skifahren und Mountainbiken, es ist ein gigantischer Alpin-Park. Seine Fassade ist die höchste Kletterwand der Welt. Die Sauberkeit hat also eine ganz andere Konsequenz: «Das Reframing führt dazu, dass das Kraftwerk etwas ganz anderes werden kann.» Wir blicken auf seine unzähligen Projekte und uns wird klar: Dieser Mann macht mit seiner Architektur nicht Kunst, er schafft eine neue Realität.
Die Suche nach Alternativen zum Standard
Die Realität aber, wird bei BIG immer in Frage gestellt. Standard-Lösungen sind nicht Bjarkes Ding. Dies nicht etwa, weil der Standard etwas Schlechtes wäre: «Eine Standard-Lösung wird nicht zum Standard, weil sie schlecht ist, sondern weil sie etwas enorm gut, vorhersagbar und effizient tut. Um die Standard-Lösungen zu übertreffen, kann man sie also nicht ignorieren. Man muss verstehen, was sie so gut tut.»
Mit diesem Ansatz fordert Bjarke Ingels den Status Quo konsequent heraus und sucht fortwährend Gelegenheiten für Weiterentwicklung: «Man muss sich fragen, wie sich die Welt verändert hat. Wenn man das versteht, erkennt man die kleinen Risse. Jene Stellen, an denen unsere heutige Realität und die Standard-Lösungen auseinanderklaffen, weil sie nicht mehr ganz passen. Diese Risse sind Gelegenheiten, alternative Antworten zu finden und damit die Realität zu verändern.»
«Als Architekten müssen wir verstehen, beobachten und zuhören um Wandel zu erkennen.»
Es ist da also dieses Streben weg vom grossen Einerlei, das so manche Stadt ausmacht. Ein Streben hin zu Lösungen, die beispielhaften Charakter haben und die Zukunft vorweg nehmen. «In einer lokalen Kultur muss ein Architekt hart dafür kämpfen zu zeigen, dass andere Dinge möglich sind. Wenn einem das gelingt, hat die neue Alternative – ist sie einmal gebaut, willkommen geheissen und vielleicht sogar geliebt – die Chance zu etwas zu werden, worauf sich andere Architekten beziehen können. Sie können darauf zeigen und fragen ‘Wenn es denen gelingt ein Kraftwerk mit Skipisten zu bauen, wieso können wir das nicht auch?‘»
Gerade in diesem steten Streben sieht Bjarke Ingels eine Parallele zu Sky-Frame: «Durch stete Perfektionierung ist es Sky-Frame gelungen, alle nebensächlichen Notwendigkeiten so weit wie möglich verschwinden zu lassen.»
«Der Beweis für den Erfolg eines Fenstersystems ist seine Fähigkeit zu verschwinden, keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, nicht im Weg zu sein. Die architektonische Fantasie ist es, nur den Wetterschutz und die Wärmedämmung zu haben – ohne etwas anderes. Dem ist Sky-Frame am nächsten.»
Seine fortwährende Suche nach einer besseren Lösung führte ihn schliesslich zu Sky-Frame: «Für die Fähre suchten wir nach Schiebefenstern mit möglichst minimaler Struktur. Wir wollten, dass man nicht unterscheiden kann zwischen dem fixen und dem zu öffnenden Teil. Mit Sky-Frame fanden wir das schlankste, eleganteste und minimalste Produkt auf dem Markt.»
Bjarke Ingels sitzt noch immer energetisiert auf der Kante seines Sofas – im Kopf längst beim nächsten grossen Kundentermin und dennoch klar und präsent. Und wir spüren die Kraft, die ihn antreibt: «Als Architekt oder Designer treibst du ein Projekt voran, indem du fortlaufend das kritisierst, was du schon hast – bis es nichts mehr zu kritisieren gibt. Natürlich kommt man nie soweit. Aber wenn man nicht aufhört, stetig zu verbessern, zu verfeinern, dann kommt man unglaublich weit.»
«Manchmal fragen mich Leute, was denn nun, da ich alles erreicht hätte, sei. Die müssen scherzen. Wir sind soweit von dem entfernt, was wir eigentlich tun könnten. Wir kommen immer ein Stück weiter. Perfektion erreichen wir nie, aber indem wir nach ihr streben kommen wir näher und näher.»
Auch am Schluss des Gespräches sind wir fasziniert von Bjarke’s Schöpfungskraft. Und trotz aller Visionen und dem globalen Erfolg, ist da dieses Einfache, Geerdete. Vielleicht die Quelle des Pragmatismus’, der seinen Erfolg ausmacht. «Auf einem Hausboot zu leben, lehrt mich. Als moderne Menschen nehmen wir alles für selbstverständlich: Elektrizität, Heizung, Wasser und Abwasser. Auf einem Boot bist du dieses autarke kleine Ökosystem und du realisiert plötzlich, wie viel Wasser du brauchst, weil du den einen Tank füllen und den anderen leeren musst. Es ist wie ein gigantisches Tamagotchi, von dem dein eigenes Wohlergehen abhängt.»
Bjarke Ingels ist am 2. Oktober 1974 in Kopenhagen geboren. Nach seinem Studium an der Königlichen Kunstakademie Dänemarks, der «Kongelige Danske Kunstakademiets Arkitektskole» in Kopenhagen, und an der «Escola Tècnica Superior d’Arquitectura» in Barcelona arbeitete er von 1998 bis 2001 im «Office for Metropolitan Architecture» in Rotterdam. Während er die Ausbildung an der Königlichen Akademie sehr konservativ wahrnahm, hat ihn die Zeit in Barcelona massgeblich beeinflusst. Sie prägt sein Schaffen nachhaltig.
2001 gründete Bjarke Ingels zusammen mit seinem belgischen Kollegen Julien de Smedt das Architekturbüro PLOT in Kopenhagen. Darauf folgte 2006 die Gründung der «Bjarke Ingels Group», kurz «BIG» in Kopenhagen, das heute, zusammen mit einem weiteren Standort in New York (seit 2010), über 400 Mitarbeitende aus 25 Ländern zählt. zählt. 2009 war er Mitbegründer der Design-Agentur «KiBiSi». BIG ist derweil heute mehr als Architekturbüro: Hier wird im Bereich des Urbanismus geforscht und entwickelt. Innen-, Landschafts- und Produktdesign gehören ebenso zum ganzheitlichen Angebot. Aktuell treibt BIG Projekte in Europa, Nord-Amerika, Asien und dem Mittleren Osten voran.
Mehr unter: big.dk
Film: Luzian Schlatter | Text: Shift to Clarity